Die grünen Dampfmacher
Industriebetriebe ächzen unter hohen Gaspreisen und fürchten ein Embargo. Sie brauchen Energie für ihre Prozesswärme, ob in der Brauerei oder dem Chemiepark. Eine simple Technik könnte helfen: thermische Speicher.
Von ANNA-LENA NIEMANN

Die Hierarchie im Energiekosmos ist eigentlich ganz klar. Der Platz ganz oben gehört dem elektrischen Strom. Edel ist er, da sind sich Techniker und Tüftler einig. Wärmeenergie ist da schon etwas profaner, hierarchischer Mittelplatz vielleicht. Doch nun kommt die Energiewende und bringt die ganze schöne Pyramide durcheinander. Denn jetzt, und erst recht seit das Land noch einige Gründe mehr hat, von den alten Wärmebringern Öl und Gas wegzukommen, fällt eines auf: Dort, wo grüne, regenerativ erzeugte Wärme sein sollte, klafft eine ziemlich große Lücke.
Den noblen Strom steuern immerhin schon zu 40 bis 50 Prozent regenerative Energiequellen bei. Davon ist der Wärmesektor mit seinen 15 Prozent weit entfernt. Dabei ist die Furcht deutscher Unternehmen vor einem Gasembargo auch deshalb so groß, weil sich die Industrie lange darauf verlassen hat, dass ihnen genau dieser Brennstoff viel Prozesswärme liefert. Laut Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft gehen zwei Drittel des industriellen Endenergieverbrauchs für Wärme drauf, davon wiederum der weit überwiegende Teil für Prozesswärme – überall, wo es Dampf braucht, ob in Molkereien, Papierfabriken oder Chemiekonzernen.
Peter Kordt ist Geschäftsführer von Lumenion und sagt, man müsse sich deshalb von der Idee verabschieden, dass sich die Industrie nicht auch durch Strom erwärmen ließe, und sei er noch so edel. Nicht mit gigantischen Wärmepumpen, die an den benötigten Temperaturen zwischen 100 und 500 Grad Celsius scheitern, sondern mit simplen thermischen Speichern. Das Prinzip „Nachtspeicherofen“ könnte also eine Renaissance erleben.
Wie genau die Speicher aussehen, hängt immer vom Kunden ab
Wie das in der Praxis aussieht, zeigt Kordt in einem Quartier in Berlin-Tegel. Wo Wohnhochhäuser aus den Siebzigern den Bottroper Weg säumen, hat der Ingenieur ein altes Heizhaus umgerüstet. Früher versorgte hier eine Ölheizung die grauen Geschossbauten, jetzt summt am gleichen Ort leise ein thermischer Speicher. Kordt läuft die Treppe zum Heizhäuschen runter und schiebt ein paar leere Flaschen beiseite, die ihren Weg vor den Eingang gefunden haben. Der äußere Eindruck – halb so wild für den Geschäftsführer. „Also man sieht, der Speicher ist wartungsarm, man muss hier nicht so oft runter.“
Wie genau die Speicher aussehen, hängt immer vom Kunden ab. Gemeinsam haben alle, dass die Technik so simpel daherkommt, wie kaum etwas, das mit dem Umbau des Energiesystems zu tun hat. Tatsächlich ist auch das Herzstück dieser Anlage, die 400 Wohnungen das ganze Jahr mit Heißwasser versorgt, einfach aufgebaut: Rundstäbe aus Stahl, jeder 40 Millimeter im Durchmesser, sind in einem Fischgrätmuster im Speicher angeordnet. Sie sind jeweils durch eine Mittelstange zu beiden Seiten gesteckt, damit sie sich ausdehnen können, wenn ihnen warm wird. Denn die Luft, die sie umgibt, wird richtig heiß, wenn der Strom besonders günstig ist, weil viel Wind und Sonne ihn im Überfluss liefern. Ein elektrisch betriebenes Heizgerät, wie ein riesiger Föhn, beginnt den Speicher zu laden. Der Stahl nimmt die thermische Energie schnell und gleichmäßig auf, die Temperaturkurve steigt linear an. Von mindestens 170 Grad bis hinauf auf 450 Grad. An anderen Standorten, wo höhere Temperaturen gebraucht werden, schaffen es die Lumenion-Speicher auch bis auf 650 Grad. Ein Ventilator wälzt die Luft dabei stetig um, und ein Wärmetauscher entzieht dem Speicher schließlich wieder Wärme, wann immer heißes Wasser gebraucht wird. Das Ganze passiert mit einem Wirkungsgrad zwischen 90 und 95 Prozent. Gut gedämmt, verliert der Speicher nur ein Prozent seiner Wärmeenergie pro Tag.

„Wir können das Ein- und Ausschalten wie eine Glühbirne“, sagt Kordt. Laden in vier oder mehr Stunden, zusammenhängend oder über den Tag verteilt, 24 Stunden entladen, oder wann immer Wärme gebraucht wird, selbst gleichzeitig laden und entladen sei kein Problem.
Zudem unterstützen die thermischen Speicher indirekt die Energiewende. „Alles lässt sich so anpassen, dass der Speicher nur lädt, wenn regenerative Energie im Überfluss zu einem guten Preis zur Verfügung steht. Dadurch können die vorhandenen Kapazitäten von erneuerbarem Strom maximal genutzt werden.“ Die Speicher bügeln also glatt, was die Erneuerbaren an Volatilität auffahren. Ein Vorteil gegenüber Batteriespeichern oder Brennstoffzellen, die mit jedem Ladezyklus schwächer werden oder Schwankungen ohnehin nicht mögen.
Je mehr Ladezyklen, desto besser
Jobst von Hoyningen-Huene, zu dessen Holding Econnext das Berliner Start-up gehört, glaubt, dass die Einfachheit der Technik eine Stärke ist. Die Speichermodule lassen sich leicht skalieren und überall auf der Welt mit bekannten Komponenten fertigen. Und er sagt:„Ich halte thermische Speicher für eine Schlüsseltechnologie, wenn es um die Dekarbonisierung der Industrie geht.“ Denn der Speicher im Berliner Quartier ist mit seinen 60 Tonnen Stahl und 2,4 Megawattstunden Kapazität ein eher kleiner Vertreter seiner Gattung. Gerade hat Lumenion mit dem Bau eines Speichers mit etwa zehnfacher Leistung begonnen. Ein Biolandwirt hat ihn bestellt, und wo in Berlin ein Wärmetauscher dem Speicher Energie entzieht, braucht es dort jetzt noch einen Dampferzeuger. Gemüse schälen, dämpfen und frosten braucht viel Energie, am besten CO2-freie. Der Betrieb sitzt in Heide und damit im Offshore-Ökostrom-Radius. Pustet der Wind besonders kräftig über die Nordsee, kann Lumenions Software den großen Föhn anwerfen und den Speicher laden, um auch bei kurzer Flaute weiter ein paar Tonnen Erbsen zu verarbeiten.
Inklusive Investition und Wartung kostet der Betrieb zwei bis fünf Cent die Kilowattstunde. Je mehr Ladezyklen ein Betrieb in seine Abläufe einbauen kann, desto schneller ließen sich Geld und CO2-Emissionen sparen. Klar ist aber auch: Um Langzeitspeicherung geht es hier nicht.

Anders als bei der Großanlage in Hamburg, die Siemens Gamesa testet. Das Grundprinzip ist zwar ähnlich, poröses Vulkangestein wird aufgeheizt, sobald es grünen Strom im Überfluss gibt. Doch das Pilotprojekt versucht sich eigentlich an einer riesigen Carnot-Batterie, will die eingespeicherte Wärme bei Bedarf also über eine Turbine wieder in Elektrizität wandeln, statt sie direkt auszuspeisen. Der Speicher bleibt innerhalb seiner Stromsektorgrenzen, genau wie die schon gängigen Flüssigsalzspeicher, wie sie beispielsweise zu vielen Solarthermie-Kraftwerken gehören, innerhalb ihres Wärmesektors bleiben.
In einem solchen Solarthermie-Kraftwerk in Abu Dhabis grüner Vorzeigestadt Masdar City hat auch das norwegische Unternehmen Energy Nest vor sieben Jahren seine thermische Speichertechnik erstmals in den Praxistest geschickt. Heute arbeiten die Speicher, die ebenfalls in skalierbaren Modulen daherkommen, bereits in Industriebetrieben in Norwegen, Belgien, den Niederlanden oder Italien. „Wenn es schon Dampf gibt, dann speichern wir Dampf“, sagt Geschäftsführer Christian Thiel, denn viel wertvolle Abwärme verpuffe sonst einfach ungenutzt. Die deutsche Energieagentur Dena schätzt, dass die hiesigen Industriebetriebe 125 Terawattstunden einsparen könnten, wenn sie hier effizienter wären. Zudem, so Thiel, sei Wärmerückgewinnung profitabel, zumal bei stetig steigenden Gaspreisen.
Bewährte Technik mit immer größerer Relevanz
Soll ein Energy-Nest-Speicher Strom zu Wärme wandeln, muss mit etwas spitzerem Stift gerechnet werden. Trotzdem könnten sich die Anlagen in zwei bis sieben Jahren amortisieren, sagt Thiel. „Idealerweise hat der Kunde mindestens einen Zyklus von Laden und Entladen pro Tag. Dann spart man richtig Geld.“ Speicher in der Größenordnung zwischen 4 und 10 MWh hat das Unternehmen schon im Betrieb, ein 40-MWh-Speicher steckt in der Entwicklung, ein Angebot für ein Gigawatt-Kraftwerk ist gemacht. Thermische Speicher dieser Art seien kein Fall mehr für die Abteilung „Forschung & Entwicklung“, meint Thiel. Sie sind bewährte Technik mit immer größerer Relevanz.
Die thermischen Speicher der Norweger ähneln denen aus Berlin technisch. Die Kerne im Inneren bestehen aber nicht aus niedrig legiertem Stahl, sondern aus einer geheimen Betonrezeptur, die HeidelbergCement für das Unternehmen entwickelt und „Heatcrete“ getauft hat. Die Mischung wird flüssig in Aluminiumzylinder gegossen. Sie besteht vor allem aus Quarzsteinen sowie ein wenig Zement, Bindemittel und Komponenten, die dem Mix eine hohe Wärmeleitfähigkeit, Speicherkapazität und mechanische Stärke verpassen sollen. Ein wenig Stahl findet sich aber auch hier. Durch jeden Betonkern führen Leitungen, durch die später Wasserdampf oder thermisches Öl fließt, um die Kerne aufzuheizen. Wichtig bei diesem Design ist laut Thiel: Alle Materialien müssen sich bei Wärme gleich stark, fast synchron, ausdehnen.
Langlebig sind sowohl der thermische Stahlspeicher wie auch der Betonspeicher. Beton ist günstiger, sortenreiner Stahl dafür leichter wiederzuverwerten. Als besonders ökologisch gelten beide Materialien trotzdem nicht, weil ihre eigene Produktion CO2-intensiv ist. Machen sie sich aber darum verdient, Prozesswärme aus überwiegend oder gänzlich regenerativ erzeugtem Strom zu liefern und damit Erdgas zu ersetzen, dauert es zwei bis drei Monate – und der ökologische Fußabdruck ist ausgeglichen.
Quelle: F.A.Z.
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10.04.2022 – Aktualisiert: 13.04.2022, 14:30 Uhr https://www.faz.net/-gyg-aoqdl